Ich bin 77 Jahre alt. Für mich gibt es keine Waschmittelwerbung. Die Politik teilt mir mindestens jeden Tag dreimal mit, dass ich mir meine Altersversorgung nicht verdient habe. Ich bin ein Bevölkerungs-Einsparungs-Objekt. Die Wirtschaft braucht mich nicht, weil ich nicht olympia-taugliche 25 Jahre alt bin, nicht über eine fünfzigjährige erfolgreiche Berufserfahrung verfüge und nicht wachstumsfördernd konsumiere.
Ich bin 77 Jahre alt und musste mir von meinen Müttern und Vätern anhören, dass sie, die Faschismus und Krieg widerstandsfrei feierten oder tolerierten, nachher Selbstverständliches taten: Aufbauen!
Dabei war ich es, der mit 14 Jahren mit der Arbeit begann. 60 Stunden die Woche durfte ich, langsam lernend, Schritt für Schritt erkennen, dass es keine Chance gibt: die, die besitzen, haben - egal, wie alt sie sind - das Recht, und mir bleibt die Pflicht.
Ich bin mehrwertsteuerpflichtig, promilletauglich, werbefernsehunwürdig, und darf alles wählen - allerdings nicht die Befreiung von einer Politik und Gesellschaftsordnung, die weiß, dass die Erlaubnis zu wählen nichts ändert. Wäre es so - Wahlen wären schon längst verboten. Ich darf nicht zurücktreten aus diesem Leben, es sei denn, ich bin Parteivorsitzender und Finanzminister mit exorbitanter Altersversorgung. Der Euro ist mir ungefragt aufgezwungen worden, wie alle großen und kleinen Koalitionen und die Gehaltserhöhungs-Abstimmung der Politiker, die man dem Volk, dem dummen, vorenthält.
Ich bin 77 und sehe, dass keiner der Mächtigen kontrolliert wird und keiner den Schwachen hilft. Ich bin 77 und habe 45 Jahre gearbeitet, Steuern bezahlt und keine Abschreibungsmöglichkeiten gehabt. Schmerzen gespürt, weil die Arbeit meinen aufrechten Gang zerstörte. Die Muskeln verschwanden, die Knochen wurden morsch und die Vorspiegelung der Solidarität einer Gesellschaft versteckte sich hinter vorgetäuschten Tatsachen.
Ich bin 77. Für mich gibt‘s kein Fernsehprogramm. Ich bin keine Zielgruppe. Mich nennt man Harry oder Henny Alzheimer. Ich habe in den Kostenlos-Magazinen für Zielgruppen von 0 bis 49 Kontaktanzeigenverbot. Für alle Dinge gibt es einen Schrottplatz, dort findet eine Abfallwiederverwertung statt. Die ist für mich nicht vorgesehen.
Ich bin 77. Ich habe ganz rasch gelernt: ein alter Mensch hat keine Chance. So werde ich meine Gedanken, mein Geld und die guten Worte nicht mehr ausgeben. Ich werde die Industrie, die mich nicht braucht, die nur den Jungen diesen Mobilriegel mit Karamel gönnt, auch nicht mehr mit meinem schwer verdienten Geld unterstützen.
Ich bin 77 und darf, wenn ich da nicht meinen aufgezwungenen Erschöpfungsausruh-Mittagsschlaf halte, jenes Elixier reinziehn, das mir die Kraft der zwei Herzen aufschwatzen und andrehen will. Der BigMac ist nichts für mich, ich habe Pommes- und Majoverbot, kein DJ legt mir was auf, und nicht mal „C&A“ hat ein Herz für mich und bietet mir einen Seniorenanzug an. Bald wird es nach der Frauenquote noch eine Kaufkraft-Jugendquote geben, natürlich mit der Kanzler- und Innenminister-Ausnahmeklausel. Bald wird das Seniorinnen- und Senioren-Überwachungsministerium, von allen Parteien befürwortet, beschlossene Sache sein.
Ich bin 77. Früher war ich noch ein Mensch. Jetzt bin ich Schrott. Ein Hoch den Erfindern des „Internationalen Jahrs für Seniorinnen und Senioren“.
Dieter Braeg