Interview mit Arsu Abdullajewa, aserbaidschanischer Friedens- und Menschenrechtsaktivistin

1Arsu Abdullajewa ist die Co-Vorsitzende der International Helsinki Citizens Assembly und Vorsitzende der aserbaidschanischen Helsinki Citizens Assembly (HCA).

„Ich bin das erste Mal in Yerevan, habe mir mit dieser Reise einen langen Traum erfüllt. Der Grund meiner Reise ist einfach: wir müssen endlich diesen sinnlosen Krieg beenden! Die Politiker haben unsere Völker in eine Sackgasse geführt, nun ist es unsere Aufgabe, die Menschen aus dieser Sackgasse herauszuführen!“ diktierte die aserbaidschanische Friedens- und Menschenrechtsaktivistin Arsu Abdullajewa im August 1992 einem erstaunten „Iswestija“-Korrespondenten in sein Notizbuch.
Mit ihrer Reise mitten im Krieg  in das armenische Eriwan, der Hauptstadt des aserbaidschanischen Todfeindes, haben Arsu Abdullajewa, Swetlana Gannuschkina und andere Frauen 1992 Friedensgeschichte geschrieben. Während der Karabach-Krieg zwischen Armeniern und Aserbaidschanern seinen Höhepunkt erreicht hatte, aserbaidschanische und armenische Männer sich hundertfach gegenseitig töteten, hatten sich mutige Frauen der aserbaidschanischen Helsinki-Citizens Assembly und der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ nach Yerevan aufgemacht, um dem armenischen Volk den Frieden zu wünschen und nach Wegen zu suchen, wie „von unten“ erreicht werden kann, was die Politiker „oben“ nicht schaffen: einen Dialog zwischen ArmenierInnen und AserbaidschanerInnen in Gang zu setzen, der die Grundlagen für einen Frieden zwischen den beiden verfeindeten Völkern schafft. 1993 wurde Arsu Abdullajewa gemeinsam mit ihrer armenischen Partnerin Anait Bayandur von der schwedischen Olof-Palme-Stiftung mit dem Friedenspreis der Palme-Stiftung ausgezeichnet.
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In einem Gespräch mit Bernhard Clasen geht Arsu Abdullajewa (55) auf die Situation in ihrem Land ein, gibt einen Einblick aus erster Hand in das von der Familie Aliew autoritär geführte Land.

Wer Aserbaidschan einige Monate nicht besucht hat, ist erstaunt über das rasante Tempo der Modernisierung: wo gestern noch unbebautes Land war, bringen heute modernste Autobahnen und Brücken die Besucher in atemberaubender Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen, das Stadtbild der Hauptstadt Baku ist angesichts der vielen neuen Bauten und Hochhäuser gar nicht mehr wiederzuerkennen.

3Natürlich freut uns Aserbaidschaner und Bakuer, dass zumindest ein Teil der Einnahmen aus unseren Bodenschätzen für notwendige Modernisierungen ausgegeben wird. Aber es gibt auch eine andere Seite der Medaille. Insbesondere meine Generation erinnert sich gerne an die Stadt Baku, die Altstadt und das Flair einer internationalen Stadt: die vielen Häuser in Bakus Altstadt mit ihrer ganz eigenen Architektur, all das hat die Stadt so liebenswert gemacht. Hier ist vieles verloren gegangen, musste riesigen Prunkbauten Platz machen.


Die derzeit herrschende blühende Korruption geht einher mit der so genannten Modernisierung des Stadtbildes. Gerade bei der Vergabe von Aufträgen im Bauwesen ist die Korruption besonders hoch. Gleichzeitig werden die Rechte der Arbeiter in der Bauwirtschaft mit Füßen getreten. Die meisten Arbeiter arbeiten dort ohne Vertrag, können jederzeit gefeuert werden. Sie haben ständig Angst, ihre Arbeit zu verlieren.

Vieles, was wir hier an Modernisierung sehen, ist durchaus schön. Doch der Preis dieser Modernisierung ist vielfach eine weitere Dehumanisierung.

Baku war lange eine grüne Stadt, doch mittlerweile sind viele Wälder den neuen Straßen und Brücken zum Opfer gefallen. An keiner Stelle ist erkennbar, dass die Verantwortlichen sich mühen, umweltpolitische Aspekte bei der Planung mit zu berücksichtigen. Gibt es denn Umweltgruppen?

4Es sind vor allem junge Menschen, die sich um die Umwelt sorgen. Viele wollen nicht, dass Baku eines Tages wie Dubai aussieht.
Vor kurzem hatten ca. 40 Jugendliche mit einer Fahrraddemonstration im Zentrum die CO2-geschädigte Bevölkerung und die Beamten Bakus aufgefordert, vom Auto auf das Fahrrad umzusteigen. Die Polizei hat völlig unangemessen auf die Aktion reagiert, die Teilnehmer mehrere Stunden festgesetzt. Viele Polizisten fühlten sich von der Aufforderung, auf das Fahrrad umzusteigen, persönlich angegriffen. Als ich auf der Polizeistation war, wo ich deren Freilassung forderte, sagte mir der zuständige Polizeichef: „Stellen Sich vor, die Jugendlichen haben mich aufgefordert, aus meinem Volvo auszusteigen und mich auf ein Fahrrad zu setzen. Das ist doch nicht möglich.“. Nun, ich kann seine Ängste verstehen. Er ist ja auch nicht gerade der Schlankeste. Und der Bürgermeister von Baku hat sich sogar zu der Äußerung versteigert, dass viele Bäume für Baku schädlich seien, da sie Feuchtigkeit an die Umwelt abgeben würden.
Ich finde es erfreulich, dass Jugendliche immer mehr Fahrrad fahren und dadurch ein Vorbild sein können. Ich hatte aber auch einen Freund, Aga Aliew, der ist mit seinen 82 Jahren überall mit dem Fahrrad hingefahren, auch dann, wenn er von Baku in die Region fuhr.

6Weit schmerzlicher als der Verlust an architektonischen Schönheiten ist der Verlust des Geistes, der lange Jahrzehnte unsere Stadt so anziehend gemacht hatte. Baku war eine internationale Stadt, Menschen unterschiedlichster Nationalitäten haben in Baku gelebt, Stadtbild und Geist der Stadt geprägt. Viele, die diesen internationalen Geist unserer Stadt geprägt haben, leben leider nicht mehr hier, und mit dem Verlust dieser Menschen haben auch neue Werte Einzug gehalten. Aserbaidschans Internationalismus war nie Zufallsprodukt. Hier leben acht große ethnische Gruppen und viele kleine Ethnien. Und deswegen konnte in Aserbaidschan auch lange Zeit der Nationalismus nicht Fuß fassen. Lange spielte die Volkszugehörigkeit kaum eine Rolle. Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit haben geheiratet. Niemand wurde gefragt, zu welchem Volk er gehört. Das hat sich heute leider geändert.

Vieles in Baku hat sich so verändert, dass unsere Hauptstadt fast nicht mehr wieder zuerkennen ist. Damit meine ich nicht nur architektonische Veränderungen. Nehmen wir nur einmal die Achtung vor den Alten und vor den Frauen. Immer sagte man, die Aserbaidschaner seien große Gentlemen. Auch im Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten ist viel verloren gegangen. Und das ist ein großes Unglück für unser Land. Insbesondere Armenier und Aserbaidschaner hatten immer ein sehr inniges Verhältnis zueinander. Bis dann eines Tages eine dritte Kraft einen Keil zwischen uns getrieben hat.
Das Verhältnis zwischen den Volksgruppen ist von großer Vorsicht geprägt. Vorbei sind die Zeiten, in denen man die unterschiedlichen Kulturen als Bereicherung begriffen hat.

Der Konflikt um Nagornij Karabach und seine Lösung sind von entscheidender Bedeutung für die Zukunft Aserbaidschans. Welche Rolle können hier denn Nichtregierungsorganisationen spielen?

9Unsere Organisation hat sich seit den ersten Tagen des Krieges an der Suche nach Lösungen beteiligt, ihren Beitrag zum Frieden und Dialog geleistet. Viele Binnenflüchtlinge leben unter erbärmlichen Verhältnissen, insbesondere in gemischten Ehen gibt es tragische Schicksale. Unsere Organisation, die HCA, hat ein Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen und Friedensaktivisten in Aserbaidschan, Armenien und der Region Nagornij Karabach aufgebaut. Wir haben seit den ersten Kriegstagen direkten Kontakt mit unseren Freunden auf der armenischen Seite gepflegt. Früher haben wir doch freundschaftlich mit den Armeniern gelebt. Der Kreml hat viele Konflikte in der GUS angeheizt, nicht nur bei uns. Und so wurden aus Freunden Feinde. Friedens- und Menschenrechtsarbeit ist nicht immer einfach. Mehrfach bin ich als „armenische Spionin“ bezeichnet worden. Gleichzeitig wurden unsere armenischen Freundinnen als „aserbaidschanische Spione“ bezeichnet. Die Friedenskräfte wurden persönlich bedroht. Wir wurden mit Eiern beworfen, Büros von Nichtregierungsorganisationen wurden angegriffen. Man hat mir einmal anonym ein „Geschenk“ gemacht: ein Seil, an dem ich mich aufhängen solle.

Vor vier Jahren wurde ein Rat von aserbaidschanischen NGOs gegründet, die sich mit dem Karabach-Konflikt beschäftigen. Wir wollen einen Dialog der armenischen und aserbaidschanischen Zivilgesellschaften, stehen im Kontakt mit der OSZE.

In Ihrem Land wird viel von Modernisierung gesprochen, Aserbaidschan ist Mitglied im Europarat. Gab es denn im letzten Jahr auch in menschenrechtlichen Fragen Fortschritte?

Nun, seit dem Beitritt Aserbaidschans in den Europarat gibt es keine massenhaften Verhaftungen mehr. Trotzdem gibt es heute 24 politische Gefangene, unter ihnen Journalisten, wie Ganimat Zachid, der Chefredakteur der Zeitung „Azadlyg“, zwei Blogger, Emin Milli, der früher bei der Friedrich-Ebert-Stiftung gearbeitet hat, und Adnan Gadschisade. Gadschisades Vater war während der Regierung der Volksfront aserbaidschanischer Botschafter in Moskau. Den beiden wird ein satirisches Video zum Vorwurf gemacht, das angeblich den Präsidenten beleidigen soll. Die Herrschenden haben keinen Sinn für Humor. Und Ejnulla Fatullajew, Herausgeber der Zeitung Reales Aserbaidschan, sitzt eine Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren ab. Ein weiterer Journalist, Muschfik Gusejnow, war vor kurzem freigelassen worden, nachdem er im Gefängnis schwer erkrankt war. Im August 2009 war Nowrusali Mamedow, Chefredakteur der Zeitung Tolyscho sado, unter merkwürdigen Umständen in der Haft umgekommen. Angesichts dieser Fälle fällt es mir schwer, von Fortschritten bei den Menschenrechten zu sprechen.
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Zu den Photos:

Arsu Abdullajewa, Januar 2010
Die armenische Kirche in der Fußgängerzone von Baku: seit Jahren ist die Kirche geschlossen, werden interessierte Besucher durch einen hohen Zaun am Betreten der Kirche gehindert. An der Spitze des Kirchturms fehlt das Kreuz.
Weitere Fotos der Stadt Baku – alle Fotos von Bernhard Clasen