1Wernher von Brauns amoralische Komplizenschaft mit dem NS-Regime

„Die Belegschaft für…Mittelteile- und Heckfabrikation könnte aus dem Häftlingslager F 1 gestellt werden. Das deutsche Führungspersonal ist dabei zuzugeben.“
Mit der Empfehlung einer Peenemünder Ingenieurskonferenz unter Vorsitz Wernher von Brauns begann am 25. August 1943 dessen Verwicklung in eines der unmenschlichsten Programme des NS-Regimes, bei dem KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter für die Serien-fertigung der V 2 ausgebeutet wurden. Ein knappes Jahr später, mit Datum vom 15. August 1944, teilte von Braun schriftlich mit, er habe selbst „im Buchenwald“ – dem Lager Buchenwald – „einige weitere geeignete Häftlinge ausgesucht.“

Von diesen Vorgängen war keine Rede mehr, nachdem Wernher von Braun und eine Gruppe ausgesuchter Peenemünder Konstrukteure den Weg in die USA angetreten hatten.  Dort bauten sie wieder Kriegsraketen. Nach dem Sputnik-„Fiasko“ verhalfen sie den Vereinigten Staaten zu ihrem ersten Erdsatelliten, schließlich zur Mondlandung. Zu Lebzeiten wurde von Braun, geboren am 23. März 1912, gestorben am 16. Juni 1977, gefeiert als „Symbol der westlichen Raumfahrt“, „Kolumbus des Alls“, „populärster Raketeningenieur der Welt“. 1964 rief die Bunte Illustrierte gar das „Zeitalter des Wernher von Braun“ aus. Wie kein anderer profitierte er von den Lorbeeren des Menschheitsabenteuers ‚Flug zum Mond’: Schließlich hatten er und seine „alten Peenemünder“ (wie sie sich gern nannten) die Rakete ent­worfen, welche die Apollo-Kapsel erfolgreich zum Erdtrabanten beförderte.
Das Wissen darum, dass Peenemünder Konstrukteure es waren, die den Anstoß zur Ausbeutung von KZ-Häftlingen bei der V 2-Fertigung gegeben hatten, dass sie sich tief verstrickt hatten in den Terror eines barbarischen Regimes, wurde von ihnen selbst, von den Biographen und Publizisten ihres Umfelds nach 1945 systematisch verdrängt und vertuscht. Der Kalte Krieg erleichterte solche Lügen. Erst archivgestützte Untersuchungen haben enthüllt, welche Rolle von Braun und seine verschworene Gemeinschaft von Raketenspezialisten tatsächlich gespielt haben.

Peenemünde: Mikrokosmos des ‚Dritten Reiches’

Am 25. August 1943 war eine Woche vergangen, seit die Royal Air Force die Heeresversuchsanstalt Peenemünde bombardiert hatte. Seit Mitte Juni existierte in Peenemünde ein KZ mit 600 Häftlingen – hauptsächlich Deutschen, Russen, Franzosen. Formal wurde es als Außenkommando des Lagers Ravensbrück geführt; tatsächlich stammten die Häftlinge aus dem KZ Buchenwald. Bei der SS angefordert zur „Lösung“ des akuten Arbeitskräftemangels hatte sie Arthur Rudolph, technischer Direktor des Versuchsserienwerks der Heeresanstalt, NSDAP-Mitglied schon seit 1931. „Schlimmer als Vieh ausgeladen“ worden seien die Häftlinge, erinnerte sich später ein Angehöriger des zivilen Peenemünder Wachschutzes. Sie wurden in der Fertigungshalle F 1 zur Mittelteilfabrikation für die Rakete eingesetzt und zunächst auch dort untergebracht. Vorher mussten sie einen Drahtverhau um die Halle ziehen, der elektrisch geladen wurde.
Noch war Wernher von Braun mit ihrem Einsatz nicht direkt befasst. Seit 1937 technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt, hatte er im selben Jahr seine Aufnahme in die NSDAP beantragt, war 1940 auch der SS beigetreten: Nach den Erfolgen der ersten ‚Blitzkriege’ stand die Zukunft des Raketenprojekts auf dem Spiel. Protektion konnte im „organisatorischen Dschungel des NS-Regimes“ (Martin Broszat) von Nutzen sein.
Denn Peenemünde war ein Mikrokosmos des ‚Dritten Reiches’, keine „Traumwelt unter der Kontrolle der Wissenschaften“, zu der Ernst Stuhlinger, von Brauns späterer Chefwissenschaftler, es nachträglich verklärte. Nur im Mythos erscheinen die Konstrukteure als immun gegen ideologische Versuchungen. Tatsächlich kam NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedschaft in leitenden Positionen häufig vor. Aufgabenfixierte Rigorosität prägte die Haltung der Ingenieure. Ethisches Denken ließen sie vermissen.
Am 3. Oktober 1942 hatte die V 2, damals noch A 4 genannt, ihren Erstflug absolviert. Nun begann Himmler sich für die Rakete zu interessieren. Mitte Dezember stattete er Peenemünde einen ersten, Ende Juni 1943 einen zweiten Besuch ab. Wernher von Braun trug aus diesem Anlass den schwarzen Rock, von dem der Reichsführer SS bekannt hatte, er habe durchaus „Verständnis“ dafür, dass manchen Leuten bei seinem Anblick „schlecht“ würde. Himmler verlieh von Braun den Rang eines Sturmbannführer (Majors), obwohl dessen Beförderung zum Hauptsturmführer (Hauptmann) gerade ein halbes Jahr zurücklag. Anderthalb Wochen später ernannte Hitler ihn nach einem Vortrag im Führerhauptquartier auf Initiative Rüstungsminister Speers zum Professor. 31jährig war Wernher von Braun damit auf dem Zenit seines Erfolges im ‚Dritten Reich’ angelangt. Sein Name stand für die Schaffung einer Waffe, an der sich die Phantasie der Techniker wie der Nazis gleichermaßen entzünden konnte.
Zwar ließ die verfügbare Steuerungstechnik lediglich eine breit streuende Terrorwaffe zum Einsatz gegen Ziele wie London oder Antwerpen zu. Doch mit der Verschlechterung der Kriegslage setzte bei der NS-Spitze eine Flucht in die Illusion ein: Mittels „qualitativer Rüstung“ hoffte man die Überlegenheit der Gegner in letzter Minute zu kompensieren. Gleichzeitig reduzierte der Aderlass der Niederlagen an der Ostfront unablässig das Arbeits-kräftepotential der Rüstungsindustrie. Sklavenarbeit hieß die Devise, mit der das NS-Regime dem Problem beizukommen suchte: Zwangsverpflichtung Kriegsgefangener, Verschleppung von Ausländern aus den besetzten Gebieten, schließlich Einsatz von KZ-Häftlingen - Himmlers Eintrittskarte in die Rüstungswirtschaft.

Konstrukteure und KZ-Häftlinge in unmenschlichen Fabriken

Nach dem britischen Luftangriff auf Peenemünde ordnete Hitler die Untertageverlagerung der V 2-Produktion an. Generalmajor Walter Dornberger, Kommandeur der Heeresversuchs-anstalt, berief telefonisch eine Ingenieurskonferenz ein. Wernher von Braun leitete die Besprechung, die laut Protokoll (aufbewahrt im Militärarchiv Freiburg des Bundesarchivs) zu der eingangs zitierten Empfehlung gelangte. Sie kam Himmlers Plänen entgegen.
Mit äußerstem Tempo wurde die Schaffung unterirdischer Werke in Angriff genommen. Den Preis für diese „einmalige Tat“ (Speer 1943) zahlten jene, deren „starke Einschaltung“ Himmler dem ‚Führer’ einen Tag nach dem Angriff auf Peenemünde vorgeschlagen hatte: „seine Kräfte aus den Konzentrationslagern“. Am 28. August 1943 trafen die ersten Häftlinge aus Buchenwald am Kohnsteinmassiv im Harz nahe Nordhausen ein. Sie bildeten das Außenkommando Dora, zum 1. Oktober 1944 umgewandelt in das KZ Mittelbau. Am 13. Oktober wurden auch die meisten Peenemünder Häftlinge nach Dora transportiert. Bis Ende 1943 war die Gesamtzahl auf 11 000 angewachsen. Unter schwerster körperlicher Beanspruchung, mangelhafter Ernährung, ständigen Misshandlungen und unsäglichen hygienischen Bedingungen begannen sie mit dem Stollenvortrieb zum Aufbau der Untertagefabrik ‚Mittelwerk’. Allein bis Ende März 1944 verloren dabei zwischen 2700 und 2900 Häftlinge ihr Leben, nicht gerechnet drei Liquidierungstransporte nach Majdanek und Bergen-Belsen mit je 1000 selektierten Kranken und Invaliden. Am Ende sollte die Zahl derer, die im Lagerkomplex Mittelbau-Dora, auf Liquidierungs- oder sogenannten Evakuierungstransporten binnen wenig mehr als eineinhalb Jahren vernichtet wurden, zwischen 16 000 und 20 000 Menschen betragen
Unterirdische Anlagen zur Treibstofferzeugung und Triebwerksprüfung entstanden gleich-zeitig in Mittelösterreich (Redl-Zipf, Tarnname ‚Schlier’), außerdem an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern bei Lehesten (Tarnbezeichnung ‚Mitte’). Hier wie dort setzte die SS Häftlinge aus Mauthausen ein. Ebenso verfuhr sie bei der Aussprengung jener unterirdischen Fabrik im Salzkammergut bei Ebensee mit dem Tarnnamen ‚Zement’, die ursprünglich geplant war als Ergänzung des ‚Mittelwerks’: In Ebensee sollte die Flugabwehrrakete Wasserfall entwickelt werden sowie das A 4-Nachfolgemodell A 9, Zweitstufe der projektier-ten „Amerika-Rakete“ A 9/A 10. Über 8200 Häftlinge starben bis Mai 1945 im Lager ‚Zement’; zwischen 2000 und 3000 Schwerkranke wurden auch hier abtransportiert, fast alle in den Tod. 
Arthur Rudolph, der in Peenemünde die ersten Häftlinge angefordert hatte, wurde Betriebsdirektor des ‚Mittelwerks’, zuständig für Montage, zivilen und Häftlingsarbeits-einsatz. Wie Michael Petersen (Missiles for the Fatherland) kürzlich nachgewiesen hat, bildete er nur die Spitze eines umfangreichen Personaltransfers von Peenemünde zum ‚Mittelwerk’, der alle späteren Behauptungen über die angebliche sachliche und persönliche Trennung beider Stätten endgültig ins Reich der Legende verweist.
Bei Besuchen im Kohnsteintunnel Anfang Oktober und Ende November 1943 bekam Wernher von Braun die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge zu Gesicht. Dennoch unterbreitete er Mitte November Zahlen für den Einsatz zusätzlicher Häftlinge an den Standorten ‚Mitte’ (Lehesten) und ‚Schlier’ (Redl-Zipf): „Im Hinblick auf die Schwierigkeiten der dort durchzuführenden Prüfgänge (dürfte) ein Zahlenverhältnis von Häftlingen zu deutschen Fachkräften von 2:1 bis auf weiteres nicht zu unterschreiten sein…, so dass durch den Häftlingseinsatz in Mitte und Schlier 360 minus 120 = 240 Mann eingespart bleiben… Ich bitte Sie, bei Ihrer endgültigen Entscheidung vorstehende Unterlagen zu berücksichtigen.“ Von Braun wirkte auch mit an den Planungen für die gleichfalls durch Häftlinge zu errichtende Untertagefabrik ‚Zement’ - Dienstvermerk vom 4. Dezember 1943: Alle Detailentwürfe seien „zwecks Einverständniserklärung durch Prof. v. Braun“ vorzulegen; „erst dann (gelten sie) als verbindliche Unterlage“.
Schließlich berichtete von Braun, wie eingangs zitiert, über seine eigenhändige Auswahl von Häftlingen im Lager Buchenwald. Bei Standartenführer Pister – dem KZ-Kommandanten – habe er „ihre Versetzung ins Mittelwerk erwirkt.“ Versetzung ins Mittelwerk hieß Abtransport ins Lager Mittelbau-Dora. In seiner Mitteilung regte von Braun „Erleichterungen (evtl. Zivilgenehmigung anstelle Häftlingskleidung)“ für den französischen Physikprofessor Charles Sadron an. Die übrigen, von ihm rekrutierten KZ-Insassen erwähnte er nicht.
Das Entwicklungswerk Peenemünde wurde nicht nach ‚Zement’, sondern kurz vor Kriegsende in den Raum Nordhausen verlagert. Dort waren Tausende von Flüchtlingen zusammengeströmt, die den Raumbedarf blockierten. Von Braun, mit den Planungen für die Verlagerung beauftragt, am 9. März 1945: „Eine völlige Evakuierung…scheitert an der Unmöglichkeit anderweitiger Unterbringung. Sie dürfte bei Anwendung härterer Maßnahmen jedoch zum Teil möglich sein.“
Anwendung härterer Maßnahmen… Von Brauns Überzeugungs- und Organisationstalent hatte noch eine andere, dunklere Seite.

Huntsville: Die Peenemünder bauen wieder Waffen

Während die überlebenden Insassen von Mittelbau-Dora zu Evakuierungsmärschen gezwungen wurden, die sich unter wahrhaft infernalischen Bedingungen abspielten, wurden die Peenemünder Konstrukteure aus dem Harz in den Allgäu verlagert. In idyllischer Lage  warteten sie hier das Ende des ‚Dritten Reiches’ ab. Schließlich hatten sie dem Westen etwas zu bieten. Und in der Tat: Mit Oberst, später General, Holger Toftoy fand sich erneut ein militärischer Vorgesetzter für die Peenemünder, der auf Fernwaffen setzte und dem – diesmal amerikanischen – Heer dabei einen führenden Platz sichern wollte.
Nach dem Ausbruch des Koreakrieges durften die „Nazi brains“ (so 1945 die Illustrierte Life) in Huntsville, Alabama, wieder Raketen bauen, jetzt mit Kernsprengköpfen: die Redstone, die 1958 in der Bundesrepublik aufgestellt wurde; die Jupiter, zwei Jahre später in Italien und der Türkei stationiert, nach der Kuba-Krise wieder abgezogen. Als die Vanguard-Rakete, entwickelt zur Beförderung eines amerikanischen Erdsatelliten, der den sowjetischen Sputnik-Triumph wettmachen sollte, beim entscheidenden Start versagte, standen von Braun und sein Team bereit: Am 31. Januar 1958 bescherten sie ihrer neuen Heimat den Satelliten Explorer I.
Drei Jahre später, im April 1961, erlebte die Sowjetunion mit Juri Gagarins Weltraumflug einen gewaltigen Triumph und die neue Regierung Kennedy mit dem Scheitern der Schweinebucht-Invasion auf Kuba ein Debakel. Als „Chance, die Russen zu schlagen“, verkündete Kennedy nur einen Monat später vor dem Kongress das Projekt einer bemannten Mondlandung „noch vor Ende dieses Jahrzehnts“. Die Zuständigkeit für die Konzipierung der auf dem Jupiter-Geschoß aufbauenden, Saturn genannten Trägerrakete erhielt das George Marshall-Raumfahrtzentrum der neugeschaffenen Raumfahrtbehörde NASA, hervorgegangen aus der Entwicklungsgruppe der Armee in Huntsville und nach wie vor geleitet durch Wernher von Braun. Zum Saturn-Programmdirektor avancierte Arthur Rudolph.
Im Dezember 1968, dem Jahr der Morde an Martin Luther King und Robert Kennedy, gelang die bemannte Mondumrundung, ein halbes Jahr später die Landung im Mare Tranquilitatis. Der Wettlauf mit der Sowjetunion – Teil „der Schlacht an der fließenden Front des Kalten Krieges“ (Robert McNamara) – war entschieden. Drei Jahre später wechselte  Wernher von Braun von der NASA in die Privatwirtschaft, nachdem sein Projekt einer bemannten Mars-Expedition zu den Akten gewandert war. 1977 erlag er einem Krebsleiden.
Ein Vierteljahrhundert zuvor, 1952, hatte er für westliche „Weltraumüberlegenheit als Weg zum Weltfrieden“ plädiert. Eine atomraketenbestückte Raumstation sollte über  dem „potentiellen Gegner“ am Himmel kreisen und ihn in Schach halten. Um diese Pax America zu etablieren, schreckte Wernher von Braun vor der Drohung mit einem Präventivschlag nicht zurück: Sofern der Gegner sich anschicke, eigene Raumfahrzeuge zu entwickeln, sollten „wir vereiteln, dass er die erforderlichen Test- und Startplätze überhaupt aufbaut“, indem „wir (ihm) ein entschlossenes, machtgestütztes ‚Nein!’ entgegenhalten.“
Konventionellere Wege als die Raumstation verwarf von Braun. Sein Argument: Der präsumtive Gegner würde „uns mit seiner totalitären Verfügungsgewalt über Ingenieurs-kompetenz und seinem Massenaufgebot an Sklavenarbeit übertrumpfen.“
Ingenieurskompetenz und Sklavenarbeit: Diese ‚effektive’ Peenemünder Mischung hatte sich offenkundig in von Brauns Gedächtnis eingegraben.

Eine kürzere Fassung dieses Artikels erschien am 17. März 2012 unter dem Titel „Mond und Schatten“ in der Badischen Zeitung. Vgl. zu dem Thema auch die Neuausgabe des Buchs von Rainer Eisfeld: Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, zu Klampen Verlag 2012, 296 Seiten (mit neuem Vor- und Nachwort), 28 Euro.