ZUM  1.Mai

Vor 86 Jahren schrieb Erich Mühsam, den  heute die im Umbau befindliche Republik tot schweigt, der aber nicht umzubringen ist, diesen Text zum „Kampftag“ der Arbeiterklasse. Geschichte wiederholt sich nicht, aber was damals  von Erich Mühsam der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften vorgeworfen wurde, das passt auch noch heute. Erich Mühsam wurde von den Nazis am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet. Schon vorher hat man seine Bücher und Texte verbrannt. Heute muss man das nicht mehr tun. Einschaltquotendiktatur und Nichtbefassung sorgen dafür, dass das  was sich nicht fügen will, nur noch in den Archiven modert.  Deswegen hier seine Nachricht:

„Glückliche Fügung: Der 1. Mai 1927 fällt auf einen Sonntag! Ei, da wird es ein fröhliches Feiern geben; da kann ein jeder mit— marschieren hinaus ins Grüne, die roten und schwarzrotgoldenen Fahnen bekränzt mit dem lieblichen Schmuck des jungen Frühlings, und der eherne Schritt der Arbeiterbataillone, melodiös begleitet vom Rasseln der Kinderwagen, stampft in musterhafter Ordnung zum Festlokal, wo Familier Kaffe kochen können und wo auf Festreden und nedcisches Spiel abends der Schwof folgt. Der Mai ist gekommen! schmettert es durch Feld und Auen und Nicht predigen wir Haß den Reichen, nur gleiches Recht für jedermann! Grassmann aber, die geballte Faust aus der Tasche ziehend und auf das rot drapierte, von Lenzgrün prangende Pult schj sgend, versichert den freudig bewegten Pärchen, die Hand in Hand mit den Blicken an des Redners gesträubtem Schnurrbart hängen, daß er es dem Stegen.‘ wald gehörig geben werde, daß das Arbeitszeitnotgesetz eine Schande sei für die deutsche soziale Republik, daß der Bürgerblock nur ja nicht übermütig werden möge, — denn die ungeheure Beteiligung an der Maifeier. dieses Jahres beweise es, daß die Arbeiterschaft voll und ganz hinter ihren bewährten Führern stehe, unbeirrbar entschlossen, den 8 Stundentag zu erkämpfen mit dem Stimmzettel in der Hand und getreu ihren kampferprobten millionenstarken Organisationen, ihrer Partei und ihren Gewerkschaften nun und immerdar, in Not und Tod — unser der Sieg: trotz alledem! Und dann winkt Grassmann einem Proletarier, der trotz der glücklichen Fügung, daß der 1. Mai dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, doch  nicht mitfeiern kann, denn er muß einen lebenswidnien Betrieb aut. recht halten und als Drosdikenchauffeur den berufenen Arbeiter.‘ führer ein Dorf weiterfahren zur Bekämpfung der Ausbeutung und des Bürgerblocks und zur Förderung der Demokratie und
Friedens: Völkerfrühling Weltenmai!
Soll man eigentlich als revolutionärer Staatsfeind und Sozialist den otesken Humbug unserer entarteten Maifeiern noch mitmachen Das wird darauf ankommen, ob irgendwo noch Hoffnung besteht, die Veranstaltungen den Philistern der Realpolitik und der positiven Mitarbeit an Staat und Wirtschaft aus den Händen zu schlagen und mit Kampfgeist und Aktivität zu beleben. Es ist bedauerlich, den Anträgen der parlamentarischen Arbeiterparteien und der zentralistischen Gewerkschaften, den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu erheben, noch nicht stattgegeben worden Dann wäre die Entscheidung für den Revolutionär leicht zu treffen: staatliche Feierrage sind keine proletarischen Feste, die Arbeiterklasse demonstriert für ihre Rechte ernsthaft nur ohne behördliche Einladung und gegen den Willen der Kapitalisten, deren Verhaftungsmaschine der Staat ist. Mit ein wenig Humor hätte die Reichstagsmehrheit die wuchtigen Anträge auf Anerkennung der Maifeier als gesetzliche
Einrichtung längst angenommen, hätte sie auch 1919 schon den spaßigen Antrag der Unabhängigen zum Gesetz erhoben, daß die Farbe der deutschen Republik weder schwarzweißrot noch schwarzrotgold, sondern rot sein solle. Die Bürger hätten damit bewirkt, daß die rote Fahne nicht wieder von Revolutionären hätte entrollt werden können und daß die dem Klassenkampf ergebenen Proletarier den 1. Mai genau so als unwillkommenen Lohnentgang ansähen, wie etwa den Buß— und Bettag. Wie die Dinge liegen, betrachtet das Unternehmertum die Maifeier immerhin als Störung und demgemäß in Jahren, die nicht so glücklich sind, an einem Sonntag den 1. Mai schreiben dürfen, als Vorwand zu Schikanen und Zwangsmaßnahmen gegen die Arbeiter. Mögen die revolutionären Gruppen der Arbeiterschaft also getrost maifeiern, wenn sich nur nicht einbilden sie revolutionierten damit ihre Klasse.
Die Maifeier wurde als ständige Demonstration des internationalen Proletariats bei der Gründung der II. Internationale 1889 in Paris beschlossen. Sie sollte ein jährlich einmal durchgeführter Proteststreik der gesamten Arbeiterschaft der Welt gegen die kapitalistische Ausbeutung sein und als einzige Forderung des Proletariats dessen Willen zur Erlangung der gesetzlich garantierten 8 ständigen Normalarbeitszeit in allen Ländern demonstrieren. Die Versuche, diese reformistische Zielsetzung zu erweitern, die schon 1890 heftige Auseinandersetzungen innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hervorriefen, hatten auf die Dauer kein Ergebnis, die II. In. nationale blieb, was sie von Anfang an war und bleiben mußte, und die Maifeier ließ sich in den Ländern, unter deren Arbeiterorganisationen die Sozialdemokraten dominierten, trotz aller Anstregungen einer radikalen Opposition, nicht revolutionär überpinseln. Die Arbeiter streikten für ihren 8 Stundentag, die Unternehmer maßregelten, die Bonzen kuschten, vertagten die Feier auf den Abend oder den nächsten Sonntag, verbogen die Manifestation zu einer Erholungs- und Vergnügungs- Veranstaltung und glätteten die Sorgenfalten der Bourgeoisie, die schon vor proletarischen Massenaktionen gezittert hatte.
Nach dem Zusammenbruch der II. Internationale im Kriege md der revolutionären Besinnung des Proletariats konnte man hoffen, daß der Wehfeiertag der Arbeiterklasse mit neuer Bedeutung neu erstehen werde. Was geschah aber am 1. Mai 1919 in München?
revolutionäre Proletariat verteidigte in namenlos schweren und blutigen Straßenkämpfen die Räterepublik gegen die dem Oberbefehl der Sozialdemokraten Noske und Schneppenhorst unterstellten weiß. gardistischen Landsknechtsbanden der Ehrhardt, Roßbach, Kriebel und Konsorten. Während aber das Arbeiterblut stromweise über die Straßen rann, führten die sozialdemokratischen Partei-  und Gewerkschaftsführer ihre getreue Gefolgschaft unter dem Schutz der weißen Garden in den vom Straßenkampf noch nicht erfaßten Stadtvierteln spazieren, und die „Maifeier“ wurde beim Knattern der Maschinengewehre, die Herzen und Hirne zukunftglühender Proletarier in die Gossen spritzten, auf Schildern und Transparenten herum getragen, auf denen zu lesen stand: Gegen den Bürgerkrieg! Gegen den Bolschewismus! Für Ruhe und Ordnung! Für den Völkerfrieden! Für den 8 Stundentag! Es lebe die demokratische Republik!
Der 8 Stundentag war zu jener Zeit Wirklichkeit, die Novemberrevolution hatte sich damit begnügt, statt sozialistischer Neugestaltung der Gesellschaft wirtschaftsfriedliche Reförmchen in der kapitalistischen Staatsgesetzgebung festzulegen. Heute sind wir längst wieder so weit, die Forderungen der II. Internationale als hehre Ziele vor den maifeiernden Arbeitern aufzupflanzen. Gewiß versuchen noch die Organisationen der proletarischen Linken, die Syndikalisten, Anarchisten, Unionisten, die Kommunistische Arbeiterpartei und die als „Ultralinke“ aus der K. P. D. herausgesetzten Gruppen, den 1. Mai mit prinzipiell antikapitalistischem und reformfeindlichem Geist zu belebenleben, aber es hieße doch, sich gegen Tatsachen abzusperren, wollten wir verkennen, daß die kommunistische Partei Zentrale einfach der durch Enttäuschungen und Schlappen, durch Reaktion und Verelendung revolutionsmüde gewordenen Stimmung breiter Proletariermassen Rechnung trägt, wenn sie, ungeachtet aller Fußtritte, die ihr Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Reichsbanner versetzen, unentwegt „Einheitsfront“ und zwar ausschließlich mit den Reformisten proklamiert, die am 1. Mai 1919 in München gezeigt haben, was in der Stunde der Entscheidung von ihnen zu erwarten ist. Der Rote Frontkämpferbund, früher eine enthusiasmierte Schar ungeduldiger Draufgänger, hat sich in die bescheidene Rolle einer parteipolitischen Demonstrationsgarde drängen lassen, die, ohne die mindeste Gegenliebe zu finden, die schwarzrotgoldene Hörsingakademie und selbst die „Klassenbrüder“ im grünen Schuporock mit ihrem Rot Front! umwirbt und ihren Tatendrang ausschließlich  noch als Partei - Polizei bei der Sprengung linksrevolutionärer Versammlungen auslebt. Es ist ein Jammer, all den heiligen revolutionären Eifer, der ganz gewiß in den Reihen dieser Proletarier wirkt, so furchtbar mißleitet zu sehn, die nun am 1. Mai für den 8 Stundentag, für Gewerkschaftssimpelei, für parlamentarische Schaumschlägerei und für die Tagesparolen demonstrieren werden, die in diesem Augenblick zufällig der K. P. D. und der Komintern taktisch genehm scheinen. Sie werden sich dabei, wie neulich in Charlottenburg, tapfer den Revolvern und Gummiknüppeln derer preisgeben, die sie für die „Einheitsfront“ gewinnen möchten, aber die Art, wie sie den Feiertag begehen, wird weder die Revolution beschleunigen, noch auch nur eine der Tagesforderungen, für die sie aufmarschieren, der Verwirklichung näher führen.
Niemand kann wissen, wie der Stahlhelm-Aufnarsch in Berlin und Potsdam am 7. und 8. Mai ausgehen wird. Daß eine Kopie des Mussolinizuges nach Rom geplant ist, scheint sicher zu sein. Die Eingänge der Häuser, in denen die für das Kommunistenpogrom vorgemerkten Revolutionäre wohnen, sind gezinkt; die Teilnehmer haben sich gegen Beschädigungen ihrer werten Gesundheit bei dem Unternehmen, gegen Beraubung, falls sie im Drange des Geschäfts mal mit ihren Opfern verwechselt werden sollten, und gegen Haftpflicht zum Ersatz der von ihnen anzurichtenden Schäden an Menschenleben und Eigentum auf Kosten ihrer Auftraggeber erstaunlich hoch versichern lassen, Hindenburg hat den unter Ehrhardts Führung anrückenden Herrschaften ein Begrüßungsschreiben entgegengeschickt, und, was das Verdächtigste ist, Hörsing beschimpft, Vorwärts verhöhnt die Kommunisten, Grzesinsky und Zörgiebel sichern den nationalen Befreiern jeglichen Polizeischutz gegen die Arbeiter zu und scheinen ihnen auch die Bannmeile öffnen zu wollen, las Reichsbanner Schwarzrotgold erklärt, die Herrschaften unter sich lassen zu wollen, und so siebt es aus, als seien für den Fall des Gelingens schon Vereinbarungen mit den Sozialdemokraten getroffen, denen bei Wohlverhalten Schonung und vorläufige Belassung ihrer Posten zugesichert sein mag. Das ist nur eine Kombination, aber die einzige, die ihr wahnwitziges Beschwichtigen und Bremsen psychologisch einigermaßen verständlich machen könnte, sie werden, stimmt die Annahme, natürlich elend in die Ecke greifen, denn es wird ihnen nicht anders gehen, als nach ihren Verrätereien in allen Phasen der Revolution: man gebraucht sie als moralisches Schild für die Niederknüppelung der Arbeiter, nach vollbrachtem Werk erhalten sie ihren Fußtritt und kommen selber dran. Die Roten Frontkämpfer wollen auf die Straße gehen und sich den Stahlhelmern stellen. Ich bin überzeugt, daß sie sich nicht drücken werden, aber es ist nicht zu erkennen, wie sie, die unbewaffnet sind, sich den Widerstand gegen eine zu Zehntausenden anrückende und sicherlich mit Revolvern und Messern wohl ausgerüstete Bande praktisch vorstellen. Ein wirksamer Kampf gegen die Bedrohung kann in diesem Falle nur mit Unterstützung der allerstärksten wirtschaftlichen Mittel geführt werden. Die Eisenbahner müßten schon den Transport der Konterrevolutionäre verweigern, an den Tagen ihrer Anwesenheit In Berlin aber dürfte kein einziges Verkehrsmittel im Betriebe sein,
Elektrizitäts-,   Gas-  und Wasserwerke müßten feiern und die dem Proletariat irgendwie verbundenen Geschäfte und Wirtschaften wären zu absoluter Boykottierung der Nationalisten zu verpflichten. Sind diese Maßnahmen durchzuführen, dann kann man nur wünschen, daß es wirklich zu der Kraftprobe komme, die endlich - so oder so- eine Klärung der fauligen Atmosphäre bringen müßte.
Freilich ist es möglich, daß auch der 8. Mai wieder auf eine öde schwarzweißrote Affenparade hinausläuft, von der am Schluß ein Streit zwischen den rechten und linken Zeitungen übrig bleibt, ob es 3000 oder 300000 Mann waren, die dabei aufmarschiert seien. Jedenfalls kann es nicht Aufgabe der revolutionären Proletarier sein, bei ihren Maifeiern etwa ein Polizeiverbot des Stahlhelmtreffens zu fordern. Die Begehung des 1. Mai als proletarische Weltkundgebung hat nur einen Sinn, wenn dabei die Arbeiter ihre Forderungen nicht an den Staat und seine Behörden, sondern an die eigene Klasse richten. Der Stahlhelmtag in Berlin hat mindestens
die Bedeutung einer sehr ernsten Warnung an die proletarische Klasse, sich für den Kampf auf ihre gemeinsamen Aufgaben und auf die Notwendigkeit ihres kameradschaftlichen Zusammenhaltens zu besinnen. Die verlorenen Streiks der letzten Wochen, das tolle Arbeitszeitnotgesetz, die hoffnungslose Situation der Arbeitslosen, dazu die Kultur- und Justizreaktion in Deutschland, das Toben des Faschismus in immer mehr Ländern, die täglich wachsende Kriegsgefahr, der Vorstoß der englischen Regierung gegen das Streikrecht der Arbeiter, die „Rationalisierung“ der Produktion, die nachgrade die Verelendung der Arbeiter in allen Ländern der Erde und ihr Versinken in Apathie und Barbarei in erschreckende Nähe rückt, das alles sind Erscheinungen, die dem Proletariat zur Maifeier den Gedanken nahe legen könnten, schöne Wort „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ ein schönes Wort bleiben muß, solange nicht die nächstliegende Notwendigkeit erfüllt ist: Revolutionäre Proletarier jedes Landes, vereinigt euch, wie es die reaktionären Bourgeois jedes Landes längst getan haben!
Es gibt keine Einigung des ganzen Proletariats, solange ein Teil davon bewußt revolutionsfeindlich ist1 es gibt auch keine Einigung des revolutionär gesinnten Teiles des Proletariats auf Parteiprogramme, Theorien, Systeme, Dogmen oder Organisationsformen. Am allerwenigsten gibt es eine Einigung des revolutionären Proletariats durch
Führer - Abmachungen. Eine Einigung revolutionärer Proletarier ist nur möglich aus ihrem eigenen Antrieb, von unten über die Köpfe und Parolen der Führer aller Sorten hinweg und mit dem Willen zu gemeinsamer Kampfaktion. Am 1. Mai, und mag er selbst auf einen Sonntag fallen, gilt es nicht, schwungvolle Reden anzuhören, hübsche Gedichte aufzusagen, gesellig sich zu vergnügen und Mädchen zu küssen, sondern Genosse zu sein dem revolutionären Genossen, die Hand zu ergreifen des revolutionären Nebenmanns, gleichviel ob, gleichviel wo er organisiert sei. Gelingt es, aus der Maifeier ein Kameradschaftsfest der proletarischen Klasse zu machen, dessen Inhalt revolutionäre Solidarität, dessen Gelöbnis revolutionärer Kampf heißt, dann laßt uns feiern.“