Ulrich Heyden und Ute Weinmann,

Buchumschlag - Opposition gegen das System PutinWährend in Spanien, Chile, Israel, Großbritannien, vielen arabischen Ländern Hunderttausende auf die Straße gehen, um ihren Unmut über Sozialabbau, fehlende Bildungschancen, wachsende Armut und Menschenrechtsverletzungen Ausdruck zu geben, ist es in Russland vergleichsweise ruhig. Den Medien ist es schon eine Meldung wert, wenn sich einige Dutzend Demonstranten im Zentrum Moskaus einfinden.
Sollte sich jedoch die wachsende Unzufriedenheit in Russland über Sozialabbau und Ungerechtigkeiten in den nächsten Wochen in einer wachsenden Zahl von Protestveranstaltungen zeigen, werden einige der Träger dieser Proteste aus dem Kreis derer kommen, die in Heydens und Weinmanns 2009 erschienenen Buch „Opposition gegen das System Putin“ beschrieben sind.
Wer sich ein Bild von der lebendigen, fortschrittlichen Opposition gegen das System Putin machen möchte, ein gesundes Misstrauen gegenüber der Kreml-Kaffeesatzleserei der bürgerlichen Medien hat und sich gleichzeitig mangels guter Russisch-Kenntnisse  keinen Zugang zu den lebendigen Diskussionen und Informationen im russischen Internet, dem Runet, verschaffen kann, sei das Buch der beiden langjährigen Moskau-Korrespondenten Ulrich Heyden und Ute Weinmann ans Herz gelegt.

Per Schocktherapie in den Neoliberalismus
Leicht verständlich beschreiben Heyden und Weinmann Russlands Weg zu einem Land, das noch kapitalistischer agiert als Deutschland. Mit einer Schocktherapie hatte der damalige russische Finanzminister Jegor Gajdar Anfang Januar 1992 auf Geheiß von Präsident Boris Jelzin das Land von einer sozialistischen Planwirtschaft, die zumindest in der Lage war, die wirtschaftlichen Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, in ein neoliberales Russland katapultiert. Eines der ersten Ergebnisse war eine Inflation von 2600 Prozent. Gajdar und seinen Kollegen lag die Sicherung von sozialen Grundrechten nicht am Herzen, die Menschen fühlten sich durch die Preisfreigabe, die sie 1992 mit einem Schlag in einen wilden Kapitalismus versetzte, betrogen. Als Folge einer weiteren Privatisierungswelle 1994 und der systematischen Ausplünderung der Reichtümer des Landes durch die Oligarchen im Umfeld von Präsident Jelzin verarmten die Menschen zusehends. Die Geburtenraten sanken, der Alkoholkonsum stieg. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt inzwischen am Rande des Existenzminimums.
Während die damalige russische Führung in einem Riesentempo die Wirtschaft „reformierte“, ließ man die Schrecken der Stalin-Zeit unverarbeitet. Und so ist es kein Wunder, dass die Einstellung, so schlecht könne „die starke Hand“ doch nicht gewesen sein, die effizient und weise das Volk geführt hat, weit verbreitet ist.
Jelzins Regierungszeit zeichnete sich durch seinen Kurs in Richtung Neoliberalismus und den Hang zu einem immer autoritäreren Führungsstil aus. Am 4. Oktober 1993 ließ Präsident Jelzin das russische Parlament, das sich aus frei gewählten Abgeordneten zusammensetzte, mit Panzern angreifen. Offiziellen Angaben zufolge waren dabei  160 Menschen ums Leben gekommen, nach Angaben der russischen Kommunisten sind 1600 Menschen getötet worden. 

Und der Westen?
Von der Unerbittlichkeit, mit der der Westen die Sowjetunion kritisiert hatte, ist im Russland eines Boris Jelzin, Wladimir Putin oder Dmitrij Medwedew nichts mehr übrig geblieben.
Der Westen bestand mit darauf, dass Russland die vom IWF verordneten Rezepte durchzog. Leidtragende dieser Sparmaßnahmen waren die unteren Schichten.
Und als Präsident Jelzin das frei gewählte Parlament mit Panzern beschießen ließ, zeigten die westlichen Politiker Verständnis für diese Tat. Schließlich habe dieser ja nur das beste für das Land gewollt, eine Machtübernahme von „Roten und Braunen“ verhindern wollen. 
Auch beim Tschetschenien-Krieg mit seinen zehn tausend Toten zeigte der Westen, dass ihm Pragmatismus wichtiger ist als die lauthals verkündeten Werte der Menschenrechte. Der damalige Bundeskanzler Schröder verstieg sich gar zu der Äußerung, Rußlands Präsident Putin sei ein „lupenreiner Demokrat“.  Vielleicht wusste Schröder damals schon, dass er im Falle einer Wahlniederlage jederzeit über seinen Freund Putin einen gut dotierten Job bei „Gazprom“ bekommen werde.
Gleichzeitig scheint den Medien im Westen eine Berichterstattung über Moskauer Millionärsmessen und Luxusjachten der Oligarchen wichtiger zu sein als das Leben der russischen Zivilgesellschaft.

Ja Natschalnik – ty Durak (Ich bin der Chef und du der Dummkopf)
Russlands Arbeiterschaft: von den Herrschenden gegängelt, von westlichen Firmen klein gehalten

Immer wieder, so Heyden und Weinmann, war Russlands Arbeiterschaft mit politischen Forderungen in Erscheinung getreten. Unter Gorbatschows Perestroika machten Bergarbeiterstreiks Ende der 90er Jahre Moskau Druck, 1998 besetzten wiederum Bergarbeiter wegen ausstehender Lohnzahlungen in mehreren Regionen Eisenbahngleise. 2002 sorgten Fluglosten mit Hungerstreiks in Sibirien und Südrußland für Aufregung. Und 2005 entstanden in den ersten westlichen Fabriken, wie Ford, Nestlé oder Heineken, unabhängige Gewerkschaften. Und die unabhängigen Gewerkschaften waren vielerorts erfolgreich. So konnten streikende Arbeiter im Ford-Werk bei St. Petersburg nach einem dreiwöchigen Ausstand Lohnerhöhungen von 16 bis 21 Prozent durchsetzen. Bei einem Streik von mehreren hundert Lastwagenfahrern der Moskauer Baufirma Donstroi konnten die Arbeiter trotz des Drucks durch die Polizei die Aktion so lange aufrechterhalten, bis die Löhne ausgezahlt waren.
In ihrem Umgang mit Arbeitern unterscheiden sich westliche Arbeitgeber kaum von ihren russischen Kollegen. Der Aufbau einer Gewerkschaft bei Ford sei nicht einfach gewesen, so der Gewerkschaftsaktivist Etmanow zu Heyden. „Wenn die Manager aus dem Westen hierherkommen, machen sie es nach russischer Art, nach dem Motto ´Ja Natschalnik, ty Durak` (ich bin der Chef und du der Dummkopf)“ so Etmanow. „Für sie ist es schwer zu verstehen, dass die Arbeiter hier für ihre Interessen genauso einstehen können wie im Westen“.

UmweltschützerInnen, vereinigt euch !
Die 90er Jahre waren geprägt vom Aufschwung der jungen Umweltbewegung. Das ökologische Erbe, das die Nachfolgestaaten der UdSSR angetreten hatten, ist schwer. Auch heute noch leiden in Russland Gebiete als Folge der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl an einer erhöhten Strahlenbelastung. Und die Umweltbewegung der 90er Jahre war vielfach erfolgreich, der Bau mehrerer Atomkraftwerke konnte gestoppt werden. Leider waren diese Erfolge nicht sehr nachhaltig. Dem Nachgeben auf die Forderungen der Umweltbewegung folgte eine Renaissance der Atomwirtschaft, die trotz Tschernobyl und Fukushima weitere Atomkraftwerke, ja sogar schwimmende Atomkraftwerke plant.
Einer der herausragendsten russischen Atomkraftgegner ist der von Ute Weinmann in dem Buch vorgestellte Wladimir Sliwjak. Ihm und seinen Kollegen aus der russischen Umweltgruppe „Ecodefence“ ist es 2009 in Zusammenarbeit mit Umweltgruppen aus dem Münsterland gelungen, Atommülltransporte aus dem nordrhein-westfälischen Gronau nach Russland zu stoppen. Die Gruppe ist zwar klein, arbeitet aber auf sehr professionellem Niveau. Gemeinsam mit Umweltschützern aus St. Petersburg und dem Münsterland beobachtete man Atomtransporte, informierte die Öffentlichkeit über diese Transporte, stellte Anzeige bei der Staatsanwaltschaft in Münster gegen die Lieferung von Atommüll nach Russland.

Die Linke in Russland
Wohl kaum ein Mann steht so sehr für die unabhängige Linke in Russland wie der in dem Buch portraitierte Boris Kagarlitzkij. Seit dem Ende der Sowjetunion versuchte er immer wieder, unabhängige Linke zu vereinen. Zunächst als Gründer einer linken Partei, der „Partei der Arbeit“, in den 90er Jahren aktiv, ist er heute Sprecher des „Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen“ und Herausgeber der Zeitschrift „Linke Politik“.
Leider, so Kagarlitzkij, sei eine größere linke und unabhängige Bewegung heute in Russland nicht in Sicht. Auch der Chef der russischen kommunistischen Partei, Gennadij Sjuganow, der zum Todestag von Stalin immer treu zum Grab des Diktators an der Kremlmauer pilgere, wirke nicht gerade anziehend für die linke Bewegung. Gleichzeitig wehre sich Sjuganow gegen Bündnisse mit kleinen undogmatischen linken Gruppen, bergen derartige Kooperationen doch die Gefahr in sich, dass sie eine Entwicklung einleiteten, die dann schon nicht mehr von seiner Partei kontrolliert werde.

Die Liberalen
Auch wenn liberale Oppositionskräfte die Unterstützung der westlichen Politik und die Aufmerksamkeit westlicher Medien genießen, ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung gering. Zu gut erinnert man sich daran, wie gerade liberale Politiker die „Reformen“ von Jegor Gajdar unterstützt hatten. 2003 wurden die letzten liberalen Dumaabgeordneten abgewählt. Inzwischen aber richten sich liberale Oppositionsparteien immer mehr nach links aus. Soziale Rechte und Umweltschutz sind inzwischen hoch auf deren Agenda.

Die Medien: je höher der Wirkungskreis, desto niedriger die Unabhängigkeit
Trotz der für die Bevölkerung verheerenden Wirtschaftspolitik von Jelzin, gab es unter diesem doch noch ein gewisses Maß an Pressefreiheit. Zeitungen und Nachrichtenstationen, wie NTW, kritisierten Jelzins Tschetschenien-Krieg gnadenlos. Doch mit Putins Amtsübernahme setzte ein schleichender Prozess der staatlichen Lenkung dieser Medien ein. Inzwischen sind alle zentralen Fernsehkanäle unter staatlicher Kontrolle. Ähnlich verhält es sich mit den zentralen Zeitungen. Lediglich in der Provinz und im Internet ist mehr Freiheit gegeben. Jede oppositionell eingestellte Gruppe verfügt über eine Homepage und einen Account bei Facebook.

Zusammen mit der Radiostation „Echo Moskau“ ist die „Nowaja Gazeta“ eine Ausnahme von dieser Regel. Die kritische Zeitung „Nowaja Gazeta“ kann man zwar überall in Moskau am Kiosk kaufen. Doch wer bei der „Nowaja Gazeta“ arbeitet, lebt gefährlich. Vier Journalisten der „Nowaja Gazeta“ wurden in den letzten Jahren ermordet.

Vom Desinteresse zur Zusammenarbeit
Eines wurde mir nach der Lektüre dieses Buches von Heyden und Weinmann noch einmal deutlich: das Desinteresse im Westen, das hier auch bei Linken gegenüber Russlands Opposition herrscht, ist fatal, für uns hier in Deutschland genauso wie für die fortschrittlichen Kräfte in Russland.
Während man sich in konservativen und Wirtschaftskreisen vor offenen Kontakten mit fortschrittlichen Kräften in Russland scheut, weil man um das eigene Geschäft fürchtet, hat das Desinteresse an linker Opposition in Russland bei Linken in Deutschland andere Ursachen. Wer als Erklärungsmuster für außenpolitische Entwicklungen immer nur den „Antiimperialismus“ nimmt, dessen Zentren die USA und die EU sind, will natürlich der russischen Regierung, die ein natürlicher Gegenspieler von USA und EU ist, nicht durch ein Aufwerten der russischen Opposition in den Rücken fallen.
Besonders schön an dem Buch von Ulrich Heyden und Ute Weinmann finde ich die angeführten Fälle einer Zusammenarbeit von fortschrittlichen Kräften in Russland und anderen Ländern, die konkrete Ergebnisse gebracht hatte: dank der Zusammenarbeit von russischen und deutschen Atomkraftgegnern wurden 2009 die Atommülltransporte von Gronau nach Russland eingestellt. Dank eines Besuches von russischen Gewerkschaftern der Ford-Werke aus St. Petersburg bei brasilianischen Gewerkschaftern kehrten die Russen voller Ideen von ihrem Brasilien-Besuch zurück – und setzten das dort Gehörte bei sich in der Heimat um.

OPPOSITION GEGEN DAS SYSTEM PUTIN, Ulrich Heyden und Ute Weinmann, Rotpunktverlag. Zürich 2008. 326 Seiten 24.--€  ISBN-13: 978-3858693891